Salzburger Land

Vom Widerstand. Von der Verbundenheit

Alexandra Ava Koch IM WALD. o r t s z e i t in Leogang 2010

Titelbild:
Alexandra Ava Koch
IM WALD
o r t s z e i t in Leogang 2010

 

Ursula Reisenberger ist Regisseurin und Künstlerische Leiterin des Freien Ensembles o r t s z e i t, mit dem sie zwischen 2006 und 2013 jeweils drei Monate im Jahr in Leogang im Pinzgau gelebt und gearbeitet hat. Auf der Basis von Recherche, Interviews und systemischer Improvisation entstand eine Reihe von site-spezifischen Produktionen, denen ein sehr heterogenes Publikum wandernd gefolgt ist – vom Raum unter der Erde bis auf die Berge. Derzeit entwickelt sie unter dem Arbeitstitel „how to be human“ ein interaktives Performance-Format zum Thema Verbundenheit.
http://www.ortszeit.at/

 

Vom Widerstand.

Von der Verbundenheit.

 

„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ Im alten China soll das ein Fluch gewesen sein. Da ist was dran. Und wer auch immer uns diese Suppe eingebrockt hat – wir müssen zugeben, dass sie bitter schmeckt: Was uns heute in den Nachrichten und in unserer täglichen Erfahrung begegnet, war noch vor sehr kurzer Zeit für viele von uns unvorstellbar.

Alte Sicherheiten brechen weg, neue sind (noch) nicht in Sicht. Dinge, die wir für eindeutige Errungenschaften gehalten haben, werden in Frage gestellt, und manches, das uns schon immer suspekt war, tritt in einer Dimension hervor, die uns sprachlos macht, hilflos und wütend – und uns zum Widerstand auffordert.

Mich dagegen stellen, darwider. Die Walze aufhalten, die auf mich zukommt. Zumindest es versuchen. Zumindest mir selbst und den anderen beweisen, dass ich getan habe, was ich konnte. Auch wenn es zu wenig ist, zu klein, zu schwach. Zumindest moralisch auf der richtigen Seite stehen: dagegen nämlich.

 

dagegen / daneben

Ich will es gestehen: Ich vertraue dem Dagegen nicht besonders. Zu oft habe ich das Gefühl, es stärkt letztlich das, was es bekämpfen will, indem es ihm eine Angriffsfläche bietet, einen Anlass, eine Bühne. Was, wenn wir das Dagegen ersetzen durch ein Daneben? Was, wenn wir die Räume aufsuchen, die noch nicht definiert sind und sie mit dem füllen, was uns wichtig ist? Mit dem, was uns als lebendig erscheint? Dann geht es nicht mehr um ein Verteidigen, sondern um das Entstehen von etwas Neuem – aus dem Geiste dessen, was wir zu verlieren glaubten.

Oft erscheinen uns diese undefinierten Räume klein. Aber sind sie das wirklich? Wenn wir das Neue entwickeln wollen, müssen wir dann nicht auch neu messen lernen? „Zu klein“, „zu schwach“, „zu wenig wirksam“ misst das Neue in der Maßeinheit des Alten, in der Maßeinheit dessen, was wir überwinden wollten.

Der Bach, der sich seinen Weg bahnt, folgt den Räumen, die sich ihm öffnen. Den Fels, auf den er trifft, umgeht er. Füllt auch noch die kleinste Lücke – und vergrößert sie über die Zeit. Seine Form entsteht aus den Grenzen, die ihm der Fels setzt; seiner Lebendigkeit tut das keinen Abbruch. Die sprudelt an jedem Ort und zu jeder Zeit in der vollen Intensität.

Systeme

Wenn ich einen Schritt zurück trete und zu verstehen versuche, was die Felder, die im Moment in Aufruhr sind, gemeinsam haben, dann sehe ich eine besonders große Lücke: Dort, wo gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, fehlt das Bewusstsein für das, was diese Gruppen eint. Dort, wo wir in die ökologische Katastrophe steuern, fehlt das Bewusstsein, dass wir nur gemeinsam mit allen anderen Lebendigen überleben können. Dort, wo Profit-Maximierung einziger Motor des Handelns ist, fehlt das Bewusstsein, dass in einem komplexen System am Ende jede Erschütterung an jeder Stelle ankommen wird.

In der indischen Tradition gibt es dafür ein Bild: Indras unendliches Netz. Jedes Lebewesen ein Knoten, ein tausendfach geschliffener Kristall, der alle anderen Kristalle widerspiegelt. Die kleinste Bewegung in diesem Netz bewegt alle anderen mit. Unmerklich vielleicht – vorerst – aber nachhaltig.

Was also, wenn ich meinen Blick, meine Energie des Handelns genau dahin richte, wo die vorherrschende Wahrnehmung nicht hinschaut?

Auf dieses System, in dem alle mit allen verbunden sind – über Zeiten, Räume und Grenzen der Spezies hinweg? Systems Thinking. Das ist es, was dieser oft zitierte Begriff bedeutet: zu wissen, dass ich verbunden bin.

Mensch und Nicht-Mensch

Vor gut zehn Jahren haben wir mit o r t s z e i t im Pinzgau das System Dorf befragt; auf dem Weg durch die Landschaft in und um Leogang wurde Faden um Faden ein dichtes Gewebe aus Geschichte und Geschichten sichtbar, ein Netz von Verbindungen. Und schon damals sind neben den Figuren der Vergangenheit auch die nicht-menschlichen Mitspieler*innen  aufgetaucht.

Mittlerweile stecken wir in unserer Arbeit den Begriff des Systems um ein großes Stück weiter und richten den Blick vor allem auf die Verbundenheit mit dem, was wir als Natur bezeichnen – und uns damit gleichzeitig aus ihr herausnehmen. Die Beschäftigung mit indigenen Kulturen und der Methode der Natur-Aufstellung, vor allem aber die bewusste Wahrnehmung unserer eigenen Entfremdung hat zu der Frage geführt, was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein.

„Wer bin ich in den Augen des Eisvogels?“ schreibt der Schweizer Lyriker Thomas Gröbly. Wer bin ich unter den Nicht-Menschlichen? Wer bin ich, wenn ich mich gleichberechtigt neben Bäume, Flüsse und Fledermäuse stelle, wenn ich nicht die einzige Andere bin, die ganz Besondere, Auserwählte – sondern eine von Milliarden und Abermilliarden Lebendigen?

Vielleicht ist das der Widerstand, den wir brauchen: die Zurückweisung dieses Sonderstatus. Den Schritt in die Verbundenheit.

Vielleicht ist es wirklich so, wie die Indigenen die Schöpfungsgeschichten erzählen: Auch in ihren Mythen sind die Menschen die letzte Spezies, die die Erde betritt. Aber anders als die abrahamitischen Religionen, wo diese Tatsache sie zu Herrschern und Herrscherinnen macht, verstehen indigene Erzählungen die Menschen als jüngste Geschwister, die zum Überleben die Weisheit all derer brauchen, die schon vor ihnen da waren …

So machen wir uns, wie der Bach, auf die Suche nach einer Lücke. Nach einem Raum, der noch frei ist, noch nicht definiert durch die alte Geschichte von der menschlichen Überlegenheit. Nach einem Raum, der vielleicht übrig geblieben ist aus der Kindheit. Einem Raum des Spiels, der freien Bewegung, der Frage ohne Absicht. Einem Raum, in dem alles möglich ist, sogar die Stille. Sogar das Lauschen. Und die Begegnung – nicht nur zwischen Menschen. Im besten Fall stellt sich dieser Raum als einer heraus, in dem wir neu hören lernen. Im besten Fall lässt er uns tiefer verstehen, was es bedeutet, ein Exemplar dieser seltsamen Spezies zu sein, die so viel zu schaffen und zu zerstören vermag: was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Supergau 2025:

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Alles hat ein Ende – Videoinstallation: Siehe auch Beitrag von Julia Schäfer im Supermag, „Die brennende Sau“

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