Die Autorin:
Marlen Mairhofer, Anbandeln
Vor vielen Jahren habe ich einen ORF-Beitrag über wohlhabende arabische Familien gesehen, die im Sommer nach Zell am See kommen, um an einem Ort Urlaub zu machen, der so aussieht, wie das Paradies im Koran beschrieben ist. Der Inhalt des Beitrages war erwartbar: manche der Einheimischen begrüßen den Tourismus in der Region, weil er Geld bringt, andere klagen über kulturelle Differenzen im Umgang mit Servicepersonal und Interieurs.
Am meisten aber ist mir im Gedächtnis geblieben, wie die Tourist:innen ihren Urlaubsort nennen: Sellamse, eine lautsprachliche Kontraktion der Wörter Zell und am und See.
Obwohl ich bis zu unserer ersten Supergau-Residenz 2024, die einen Umstieg in Zell am See erforderlich machte, nie dort gewesen bin, habe ich es seitdem immer still Sellamse genannt, als ob es ein Kosename für einen Ort wäre, der nun auch für mich eine seltsam paradiesische Anmutung hatte. Denn obwohl ich seit 2009 in Salzburg lebe, bin ich in diesen Teil des Bundeslandes bisher nicht vorgedrungen, und je tiefer wir in den Pinzgau hineinfahren – als ob Regionen nicht Horizontale, sondern Vertikale wären, in die man nur mittels U-Booten und unter besonderen technischen Sicherheitsvorkehrungen vordringen kann –, desto weiter kommt mir der Weg vor, den manche meiner ehemaligen Studienkolleg:innen zurücklegen mussten, um von zu Hause ‚in die Stadt‘ zu gelangen, verglichen mit den mageren 2,5 Stunden Zugfahrt aus meiner oberösterreichischen Heimat. Oder anders gesagt: Je mehr ich von Salzburg, dem Bundesland, zu sehen bekomme, desto fremder wird mir Salzburg, die Stadt.
Uttendorf hat meines Wissens nach keinen Kosenamen. Die Touristen, die hier herkommen – im Winter in einer solchen Zahl, dass wir Glück hatten, für unseren zweiten Aufenthalt im März noch ein Quartier zu finden –, sind im Oktober bereits abgereist, und der Ort, der sich mehr in die Länge als in die Breite erstreckt, wirkt mit sich selbst beschäftigt, so, als müssten die Menschen in der kurzen Pause zwischen Sommer- und Wintertourismus versuchen, alles das zu erledigen, was sonst Gefahr läuft, liegen zu bleiben. Das Jägerchalet, das wir beziehen, weil es in der Zwischensaison viel Platz für wenig Geld bietet, ist auf eine Art und Weise rustikal, von der ich nicht beurteilen kann, ob sie authentisch ist für die Region, oder authentisch für die Art und Weise, wie Österreicher:innen Österreich nach außen hin verkaufen: an den Wänden Bilder von Hirschen nebst dazugehörigen Geweihen, die Möbel gemütlich-klobig, die Bettwäsche kariert, das Bad modern. Der Blick aus dem Fenster fällt auf eine Starkstromleitung, die durch die Landschaft schneidet, und Berge, deren Namen ich nicht weiß und die die Sonne spät ausspucken und früh wieder auffressen, sodass wir uns für unsere Web-Gänge warm anziehen müssen.
Wie zu erwarten, hat Uttendorf nicht auf uns gewartet. Und wir sind ja auch ein seltsames Gespann – drei Frauen mit einer Menge Fäden im Gepäck, die eine von uns mühevoll um verschiedene hölzerne Spulen gewickelt hat und immer wieder auf- oder abrollt, entwirrt, zärtlich aus- und einpackt mit einer Geduld, von der ich mich frage, ob sie angeboren ist oder ob man sie doch irgendwann erlernen kann.
Wir sind gekommen, um mit den Menschen zu weben, mittels einer Technik, die sich Brettchenweben nennt und schon von den Kelten praktiziert wurde. Dabei wollen wir mit den Anwohner:innen ins Gespräch kommen und, davon ausgehend, Texte schreiben. Beides wird sich als schwierig erweisen: Die Uttendorfer:innen haben zu tun, wir sind im besten Fall ein Kuriosum, im schlechtesten ein Verkehrshindernis. Von sich aus geht niemand auf uns zu, wenn wir uns webend auf Parkplätzen herumtreiben; und wenn wir die Menschen freundlich ansprechen, was wir ausdauernd tun, fragend, ob sie sich beteiligen wollen, hören wir meist ein entschiedenes ‚Nein‘. Immerhin geht damit manchmal eine gewisse Neugier einher: Man will nicht mitmachen, aber doch wissen, was wir da tun. Wir erklären, wir scherzen, wir fragen nach. Manche haben schon brettchengewebt. Viele haben viel gestrickt. Und alle sagen, dass sie nicht mehr wollen und dass man heute alles kaufen kann.
Wir sind nicht überall unwillkommen: Ins Keltendorf fügen wir uns nahtlos ein, lebende museale Objekte, die weiterweben, als hätte uns die letzte Keltin eben ihre Fäden in die Hand gedrückt, und in der Zwischenzeit hätten sich nur die Frisuren und die Kleider geändert. Die Familie mit den drei aufgeweckten Töchtern lässt sich überreden, auch der Bürgermeister, der plötzlich auf dem Rasen steht und uns entgegenstrahlt; und Herr Cenger, der uns empfängt, webt zwar nicht mit, aber kocht Kaffee und entschuldigt sich wegen der Milch. Wir versuchen, nichts zu vergessen: weben, reden, Fotos machen, mitschreiben. Drei sind keine zu viel, besonders nicht an schattigen Plätzen, wo wir uns abwechseln, damit jede einmal in die Sonne gehen kann.
Abends essen wir in einem Lokal mit amerikanischer Speisekarte und einer Kellnerin – ist sie vielleicht sogar die Inhaberin des Geschäfts, die selbst die Gäste bedient? –, die so auffallend hübsch ist, als hätte man sie aus einem Magazin ausgeschnitten und in eine Uttendorfer Collage hineingeklebt, oder als wäre sie Teil einer Fernsehserie über einen kleinen Ort, der sich in Wahrheit nur um sie dreht. Sie bringt uns Burger mit Fleischersatz, der so echt schmeckt, dass wir einander kurz skeptisch ansehen, fragt, ob wir eine Nachspeise wollen, obwohl wir längst pappsatt sind und kümmert sich auf eine Art und Weise um die Gäste, die einen sofort verstehen lässt, weshalb Menschen immer wieder zu ihr kommen wollen. Als sie dem Nebentisch von ihren drei Kindern erzählt, bekomme ich den Mund nicht mehr zu.
An den Abenden, die wir neben den Radiatoren auf der Couch verbringen, wickeln wir Wolle zu Wollknäueln auf, prüfen, wie lange das Band geworden ist und fragen uns, wo wir uns in den folgenden Tagen platzieren sollen, um niemandem im Weg zu sein, aber doch sichtbar zu bleiben. Wir sprechen über die Versunkenheit der Kinder, wenn sie das Schiffchen durch das Webfach führen, die Freundlichkeit der Mütter, die den Kindern erklären, dass sie gehen müssten, weil sonst die Tiefkühlware auftaue, und die Unmöglichkeit, Männer dazu zu bewegen, auch nur die Spule zu halten.
Wie bekommst du die Knäuel so schön rund, frag ich, und bekomme gezeigt, wie es geht. Wie immer lautet die Antwort: Geduld.
Anbandeln
Die drei Künstlerinnen Nora Grundtner, Katharina J. Ferner und Marlen Mairhofer wandern als ‚lebende Webstühle‘ durch Uttendorf und bitten die Uttendorfer:innen, Stück für Stück an einem fortlaufenden Band zu weben.
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