Leerstand
Die stille Syntax einer möglichen Zukunft
Simone Barlian – Künstlerin und Kuratorin, Raumphilosophin
Auch Leerstände halten – wie Leerzeichen in der Schriftsprache – den Korpus unserer Dörfer, Städte und Landschaften zusammen. In ihrer Abwesenheit von Nutzung liegt eine stille Präsenz. Leerstand ist keine Leere – er ist Pause, Potenzial, Spannung. Gerade im ländlichen Raum, wo Abwanderung, Strukturwandel und demografische Verschiebungen den Alltag prägen, wird sichtbar, wie das Ungenutzte mehr als nur ein Mangel sein kann: Es wird zum Spiegel der Zeit – und zur Projektionsfläche für das, was kommen könnte.
Wie ein Text, der erst durch Leerzeichen Sinn bekommt, werden auch Dörfer und Kleinstädte lesbar durch das, was fehlt.
Im Salzkammergut zum Beispiel –in Orten wie Bad Goisern, Ebensee oder Gmunden erzählen leerstehende Wirtshäuser, geschlossene Nahversorger oder ungenutzte Werkstätten Geschichten von Wandel, von Aufbrüchen und Brüchen. Doch sie erzählen nicht nur vom Ende – sondern auch von neuen Anfängen.
Die Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut 2024 hat diese Zwischenräume ebenso ins Zentrum gerückt. Und aufgezeigt, wie kulturelle Impulse Leerstände aktivieren können – nicht nur durch glatte Revitalisierung, sondern durch zarte Aneignung, durch künstlerische Setzungen, durch Begegnung.
Ein leerstehender Gasthof wird zur Bühne, ein verlassener Bahnhof zum Ausstellungsraum, eine verwaiste Villa zum Denkraum für gesellschaftliche Entwicklungen, der Industrie–Leerstand zur Kunstuni–Werkstätte und ein kirchlicher Leerstand, nach seit fast 200 Jahrhunderten, zum ersten Mal öffentlich. Hier wird sichtbar: Leerstand ist kein Makel, sondern Rohmaterial für Zukunft.
Im urbanen Diskurs wird Leerstand häufig als „temporäres Problem“ verstanden – doch im ländlichen Raum ist er oft Dauerzustand. Leerstand hat hier vor allem auch eines, nämlich Saison. Gerade deshalb braucht es hier eine neue, andere Sprache für das Unbelebte. Nicht als Defizit, sondern als kulturelle Ressource. Ein leerstehendes Haus in der Zwischen–Saison ist vielleicht nicht direkt und ebenso wirtschaftlich „verwertbar“ – aber es kann ein Ort des Dialogs werden, des Erinnerns, des künstlerischen Widerspruchs und der Möglichkeiten.
Diese Leerstellen gliedern die Erzählung des Ortes, sie geben Raum zur Reflexion. Sie trennen nicht nur, sie verbinden auch – Vergangenheit mit Gegenwart, Abwesenheit mit Möglichkeit. In der Sprache der Landschaft sind sie die Pausen zwischen den Zeilen.
Die Kulturhauptstadt in der Region des Salzkammerguts machte auch eines deutlich, dass es nicht nur Hochkultur braucht, um Kultur zu schaffen – sondern auch offene Räume. Vor allem, wenn es darum geht – Grundsteine zu legen. Und manchmal ist das wichtigste, was ein Raum tun kann: offen sein. Leerstand ist unformatiert, nicht programmiert – und genau darin liegt seine Stärke. Inmitten einer Welt der Verdichtung, der Beschleunigung, der Optimierung wirkt er wie ein Innehalten.
Nicht jeder Leerstand muss sofort „gelöst“ werden. Manchmal genügt es, ihn da sein zu lassen. Wie ein Gedicht, das zwischen den Zeilen atmet. Oder ein Ort, der nichts tut – außer, still zu warten. Auf das Nächste. Auf das Andere.
Gerade im Salzkammergut, wo Tradition und Wandel seit jeher ineinandergreifen, ist diese Haltung von besonderer Bedeutung. Die leerstehenden Orte sind keine Leerstellen des Sinns – sie sind Fugen der Bedeutung. Hier kann Stadtgesellschaft und Dorfgemeinschaft neu gedacht werden.
So wie Leerzeichen im Text den Raum für Sinn schaffen, ermöglichen Leerstände im ländlichen Gefüge das Entstehen neuer Bedeutungen. Sie sind keine Brüche – sondern Übergänge. Keine Verluste – sondern Angebote. Keine Endpunkte – sondern Anfangspunkte. In ihnen steckt die stille Syntax einer Zukunft, die wir gemeinsam schreiben können.
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