Salzburger Land

Edwin Stolk: Die Erzählungen, die wir erzählen oder erzählt haben.

Das Supergau Festival im Lungau liegt hinter uns, aber ich denke immer noch täglich mit großer Freude daran zurück. Ich erinnere mich noch gut daran, als der „open call“ im Internet erschien. Das ist ein Aufruf an Künstler, ihr Interesse an einem bestimmten Auftrag zu bekunden. Im Text hieß es, dass Künstler*innen gesucht werden, die es verstehen, ganze Wiesen zur Kunst zu erheben. Das hat mich angesprochen, weil ich in temporären Allianzen Kunstprojekte im Außenraum organisiere.

Als Künstler bin ich davon überzeugt, dass die Umwelt und das Kunstwerk übereinstimmen. Mit anderen Worten: Ich glaube nicht an eine Welt als Objekt, das mit „Dingen“ ausgestattet ist, sondern an eine komplexe Umgebung, die aus (temporären) „Verbindungen“ besteht. Die Frage, ob ich im Voraus einen detaillierten Plan für einen Raum schreiben sollte, dem ich noch nicht „begegnet“ bin, war daher nicht zu beantworten. Die größten Entdeckungen wurden selten, wenn überhaupt, im Voraus erdacht oder im Detail beschrieben.

Für die Organisation des Supergaus habe ich meinen relationalen Ansatz zur Umwelt formuliert, der grob aus drei Phasen besteht: Recherche vor Ort, Erarbeitung eines künstlerischen Konzepts und praktische Umsetzung. Gemeinsam mit lokalen „Experten“ organisiere ich um eine zentrale soziale Frage herum. Dabei erfüllte ich zwar nicht die Kriterien der „open call“, aber dieses Risiko musste ich eingehen. Tina Heine rief mich an und lud mich zu einem ersten Kennenlernen ein. Ich möchte mich bei ihr bedanken, dass sie bereit war, dieses Risiko einzugehen und sich so die Möglichkeit ergab, einem noch unbekannten Ergebnis einen Platz im Lungauer Festival zu geben.

An einem warmen Juniabend im Garten des Hotels Post, unter den Bäumen im Zwielicht des Abends, schrieb ich in meinem besten Deutsch Postkarten an die 15 Lungauer Bürgermeister. Eine Postkarte wurde beantwortet. Viele weitere besondere Begegnungen folgten. Eine Recherchephase braucht Zeit, Infrastruktur und örtliche „Offenheit“. Ein leerstehendes Haus war als Unterkunft angemietet worden und es gab (begrenzte) finanzielle Mittel, um vor Ort zu arbeiten. Meinen Spielraum und dessen Grenzen versuchte ich auszuloten. Das Wagnis, Fehler im weitesten Sinne des Wortes zu machen, ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses.

Als Künstler suche ich nach den seltenen Gelegenheiten, mein Fachwissen gesellschaftlich einzusetzen. Die Position, die ich in der gesellschaftlichen Debatte einnehmen möchte, ist alles andere als akzeptiert. Der Außenseiter, der ich im Lungau war, lernte die Bedeutung alter Rituale kennen (den sozialen Wert), aber ohne ein Tourist zu werden, sah ich auch das Risiko dieser Aufführungen als Unterhaltung (im Dienste des wirtschaftlichen Wertes). Wie kann man kulturelle Innovation fördern, wenn sie nicht den Erwartungen der Regionalvermarktung entspricht? Wenn der kreative Raum dafür fehlt, kann ein riskantes Ungleichgewicht entstehen. Die einen klammern sich dann mit aller Kraft an das, was einmal war, die anderen verlieren sich. Wenn wir die Gesellschaft auf der Grundlage unserer Beobachtungen organisieren und anpassen, ist es dann nicht seltsam, dass wir die bildenden Künstler*innen aus diesem Gestaltungsprozess heraushalten?

Der Artikel “Ein Kunstraum, so gross wie die Lungau“ in den Salzburger Nachrichten bezeichnete meine Arbeit als utopisch. Diese Einschränkung nimmt uns die Möglichkeit, das Kunstwerk als Nahrung für die Vorstellungskraft zu sehen, die es uns ermöglicht, etwas für möglich zu halten. Die Geschichte zeigt, dass die kostspielige A10 gebaut werden konnte. Heute ist sich der ganze Lungau einig, dass das positiv war und verschließt kollektiv die Augen vor den negativen Folgen der Autoabhängigkeit. Warum also ist eine schnelle Zugverbindung oder eine Universität in Zeiten des Klimawandels undenkbar „utopisch“?

© Hristina Tasheva

Die Kraft meiner Arbeit offenbart sich, wenn wir unser Denken und Handeln nicht durch diese Art von Einschränkungen begrenzen. Das Potenzial wird freigesetzt, wenn wir zusammenarbeiten, um eine bestimmte gemeinsame Realität zu erforschen und zu hinterfragen. Das ist im Wesentlichen meine Rolle als Organisator dieser Visuals, als Außenseiter und Infiltrator. Ein tolles Beispiel ist „Lungauer Bürgermeister*innen 2030“, wo eine besondere Energie entstanden ist. Man stelle sich ein imposantes Gemälde eines Gruppenporträts mit den 14 Lungauer Bürgermeistern und einer Bürgermeisterin vor. Können wir uns dieses Bild heute überhaupt noch an die Wand hängen?

© Hristina Tasheva

Der Tamsweger Bürgermeister Georg Gappmayer sprach bei der Eröffnung des Supergau-Festivals über die Existenz einer Angstkultur oder eines Angstraums. Kleine Gemeinschaften kümmern sich umeinander, haben aber auch ein Auge auf den anderen und die kollektive Erzählung. Dann ist es besonders wichtig, einen nachhaltigen Dialog zu ermöglichen (demokratischer Raum), in dem sich jeder traut, seine Meinung zu sagen. Während meiner Forschung habe ich auch erfahren, dass es einen Raum der Angst gibt. Warum muss man den Chef um Erlaubnis fragen, wenn man etwas in seiner Freizeit tut? Ich kann mir diesen Chef nur als Wächter einer Erzählung vorstellen.

Mit künstlerischen Interventionen versuche ich, in temporären Allianzen Bedeutung für lokale Themen zu schaffen. Ich male keine Landschaften auf eine Leinwand, sondern versuche, mit meiner Arbeit Teil der Umgebung zu werden. Im Moment nutze ich dafür die temporäre Infrastruktur der Kunst, wie sie zum Beispiel bei Festivals wie dem Supergau entsteht. Es ist an der Zeit, diese Art der künstlerischen Praxis strukturell zu ermöglichen. Ich sehe den öffentlichen Raum als ein interessantes Labor, in dem die gemeinsame Denkweise bestimmt wird, mit der wir handeln. Dieser Prozess steht nie still, sondern ist immer in Bewegung. Kultur ist nicht umsonst das Wort für gemeinsame Bedeutung.

Deshalb habe ich mit Freude den Artikel von Dominik Jellen über das Supergau-Festival gelesen. Er stellt eine wichtige Frage: Wie können nachhaltige Dialoge zwischen Kunst und Kultur und Kommunen gestaltet werden? Um eine Antwort zu formulieren, ist es sehr wichtig, Erfahrungen auszutauschen, gemeinsam zu reflektieren und zu lernen, sowohl vor, während als auch nach dem Festival. Ist es möglich, dass ein temporäres Festival nachhaltig ist? Wenn sich das Umfeld für die Möglichkeiten künstlerischer Praktiken „öffnet“, lautet die Antwort ja.

Rückblickend auf die Realisierung von „Conversation Pieces“ habe ich diese „Offenheit“ vor allem beim Thema Geschlechterungleichheit erlebt. Ich wage sogar zu behaupten, dass alle Themen, die mit der Landflucht zu tun haben, irgendwie auch mit dem Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen zu tun haben. Wenn Menschen den Drang verspüren, sich an einem bestimmten Kunstwerk zu beteiligen (wie es im Lungau geschehen ist), sollte das ein wichtiges Signal für die lokale Politik sein.

Mir fehlte die Zeit, um eine Debatte über die Notwendigkeit zu organisieren, das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern wiederherzustellen. Aber wenn die Lungauer BürgermeisterInnen ihre Aufgabe ernst nehmen, ist es ihre nachhaltige Aufgabe, diesen Dialog zu ermöglichen. Ein politisches Kunstwerk allein kann die Situation nicht ändern, aber es kann darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass unsichtbare Narrative sichtbar werden. Ohne „Offenheit“ oder politische Sensibilität für die Ergebnisse dieser künstlerischen Forschung ist der Wunsch nach Nachhaltigkeit in unserem Handeln vielleicht doch (noch) eine Brücke zu weit.

© Hristina Tasheva

Wir sollten keine Angst davor haben, gemeinsam neue Ausblicke zu skizzieren, wie ich es mit „Conversation Pieces“ auf dem Supergau Festival versucht habe. Es geht um die Erzählungen, die wir erzählen oder erzählt haben.

Liebe Grüße, Edwin Stolk

© Hristina Tasheva

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